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EX LIBRIS |
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Die Public Library von New York |
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Interview mit Frederick Wiseman
Sie sind fĂĽr Ihre Arbeiten ĂĽber amerikanische Institutionen bekannt und haben
letztes Jahr einen Ehren-Oscar dafĂĽr erhalten. Was hat Ihr Interesse an der
New York Public Library geweckt?
Ich habe öffentliche Büchereien immer geliebt und genutzt, weil ich darin etwas
lernen und entdecken kann und sie mit Ăśberraschungen und Anregungen aufwarten.
Bevor ich den Film drehte, war ich mit der FĂĽlle, dem Umfang und der Bandbreite an
Dienstleistungen, die die New York Public Library in ihrem Hauptsitz und ihren 92
Ablegern allen Klassen und Ethnien anbietet, nicht vertraut. Auch faszinierten mich
die Unzahl an Archiven und Sammlungen, die Vielfalt an Programmen und der echte
und leidenschaftliche Einsatz, mit dem das Personal jeden, der hier Hilfe sucht, bei
Bildungs-, Forschungs-, Sprach- oder Businessfragen, um nur einige Bereiche zu
nennen, berät.
Eine der Personen, die im Film auftauchen, bezeichnet Büchereien als „Säulen
der Demokratie“. Ist das nicht ein wenig übertrieben?
Nein, das finde ich nicht. Bevor ich den Film drehte, wusste ich nichts ĂĽber den
Umfang des BĂĽchereibetriebs. Nachdem ich 12 Wochen in der BĂĽcherei verbracht
habe, halte ich das fĂĽr eine angemessene und zutreffende Beschreibung. Die NYPL
ist nicht nur ein Ort, den man wegen seiner BĂĽcher und Archive aufsucht, sie ist eine
SchlĂĽsseleinrichtung fĂĽr die Einwohner und BĂĽrger der Stadt, vor allem in Armenund
Immigrantenvierteln, in denen die BĂĽcherei nicht nur ein passiver Ort ist, an dem
man BĂĽcher ausleiht. Die Ableger sind zu Gemeinde- und Kulturzentren geworden, in
denen eine grosse Vielfalt an Bildungsprogrammen fĂĽr Kinder und Erwachsene
stattfindet. Das Personal der BĂĽcherei hilft bei Sprach- und Computerkursen,
Literatur- und Geschichtsseminaren oder bei der Frage, wie man ein Geschäft
grĂĽndet, ebenso wie es das Schulprogramm durch Nachhilfekurse fĂĽr Kinder und
Jugendliche ergänzt. Es gibt buchstäblich hunderte von Bildungsprogrammen für
Menschen jeden Alters und aus allen sozialen Klassen. Der Film zeigt, welch breites
Spektrum an Möglichkeiten die Bücherei bietet. Die NYPL verkörpert den zutiefst
demokratischen Gedanken, für jeden offen zu sein. Alle Klassen, Ethnien, Völer sind
mit der BĂĽcherei verbunden. FĂĽr mich ist die New York Public Library ein Abbild
gelebter Demokratie. Sie steht fĂĽr das Beste in Amerika. Aus diesem Grund scheint
es mir nicht übertrieben, Büchereien als „Säulen der Demokratie“ zu bezeichnen.
Ihr Film zeigt, dass sowohl der Zugang zu Kultur für jeden, als auch öffentliche
und politische Bildung ein modernes Projekt sind...
Die New York Public Library ist mit beinahe allen Aspekten von Kultur und Bildung in
New York City verbunden – Kinder- und Erwachsenenbildung, Forschung,
Wissenschaft, Kunst, Tanz, Theater, Film, Soziokulturelle-Beziehungen, körperliche
Behinderung und Immigration, um nur einige der wichtigsten Bereiche zu nennen.
Die BĂĽcherei ist die demokratischste aller Einrichtungen, da sie an allem beteiligt ist,
was in New York City an Wichtigem geschieht. Die BĂĽcherei steht fĂĽr alles, was
Trump hasst – Vielfalt, gleiche Möglichkeiten, Bildung und Denken. Ich drehte den
Film im Herbst 2015, ohne dabei an Trump zu denken. Ich fand einfach das Thema
gut. Nach der Wahl von Trump wurde es, aus GrĂĽnden, die mit der ursprĂĽnglichen
Wahl des Themas nichts zu tun haben, ein politischer Film.
Können wir darauf bauen, dass die Intelligenz der New York Public Library es
mit den Grobheiten von Trump aufnehmen kann? Können die Millionen und
Billionen von Wörtern in der NYPL den 140 Zeichen in den Tweets des
Präsidenten etwas entgegensetzen?
Allein durch ihre schiere Existenz und ihren täglich fortlaufenden Betrieb setzt die
NYPL Trump bereits etwas entgegen. Die New York Public Library repräsentiert
Amerika viel besser als Trump, dessen Vokabular, Denkweise und Narzissmus die
eines fünfjährigen Kindes sind. Die NYPL steht für die grosse demokratische
Tradition, die Trump gerne zerstören würde. Der demokratische Geist, der in der
NYPL wie auch anderswo herrscht, ist das Rückgrat Amerikas. Trump repräsentiert
Amerika nicht, auch wenn er der Präsident ist.
Wird sich die NYPL mit diesen Ihren Ă„usserungen ĂĽber Trump und die
BĂĽcherei wohlfĂĽhlen?
Die NYPL wĂĽrde sich an keiner Form von Zensur beteiligen. Ihre Sammlungen
beinhalten tausende von gegensätzlichen und widersprüchlichen Meinungen, von
denen einige auf die eine oder andere Gruppe sicherlich beleidigend wirken. Das ist
eine der grossen Stärken der Bücherei.
BĂĽchereien haben manchmal einen etwas trockenen Ruf, aber in ihrem Film
gibt es viele fröhliche Momente.
Ja, es gibt Frohsinn, und dieser Geist ist ansteckend. Das Personal der NYPL ist
einfallsreich und grosszĂĽgig. Die NYPL bietet nicht fĂĽr alles, was in Amerika schief
läuft, eine Lösung, aber es ist grossartig, dass es eine solche Einrichtung überhaupt
gibt. Der derzeitige Leiter der BĂĽcherei hat es sich zum Ziel gesetzt, die traditionelle
Arbeit der Bibliothek fortzusetzen, aber auch Immigranten und Armen zu helfen. Wie
viele Amerikaner stammt er selbst aus einer Familie von Einwanderern und weiss um
den Nutzen eines breiten, vielfältigen Angebots an Bildungs- und Kulturprogrammen
in Armen- und Immigrantenvierteln. In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten eine
sehr darwinistische Regierung gewählt haben, könnte es sinnvoll sein, Menschen zu
zeigen, die leidenschaftlich daran arbeiten, anderen zu helfen.
In allen Ihren Filmen zeigen Sie Orte und Institutionen, und was in diesen
funktioniert und was nicht. Im Fall der NYPL haben wir den Eindruck, dass
alles funktioniert. Warum?
Ich behaupte nicht, dass alles funktioniert. Ich bin Filmemacher und nicht
Unternehmensberater. Manche meiner Filme stehen den Institutionen, die sie zum
Gegenstand haben, zum Teil kritisch gegenĂĽber. Ich denke, in jedem Film ist es
ebenso wichtig, Menschen zu zeigen, die gute Arbeit leisten und anderen nĂĽtzliche
Dienste erweisen, wie es auch wichtig ist, boshaftes, grausames und unsensibles
Verhalten zu zeigen. In jedem Fall zeigt der Film, was ich vorfinde und hoffentlich
niemals eine vorgefertigte ideologische Haltung. Fast immer ist es eine Mischung
aus Freundlichkeit und Grausamkeit, Wohlwollen und Banalität.
Warum dauert EX LIBRIS drei Stunden und siebzehn Minuten und nicht sechs
Stunden oder zwei Stunden und zwanzig Minuten? Warum könnte man, da der
Film ungestört in einer Reihe von Sequenzen abläuft, die alle ihr eigenes
Tempo haben, nicht eine Sequenz hinzufĂĽgen oder eine herausnehmen?
Meine Filme sind so lang, wie ich es dem Thema fĂĽr angemessen halte. Ich fĂĽhle
mich den Menschen, die mir erlaubt haben, sie zu filmen, mehr verpflichtet als einem
Fernsehsender. Die Endfassung des Films muss der Erfahrung gerecht werden, die
ich gemacht habe, als ich 6 oder 12 Wochen an einem bestimmten Ort verbracht und
dann während der einjährigen Schnittzeit die Muster studiert habe. Manche Themen
sind komplexer als andere, und ich versuche den Film nicht im Dienste der
willkĂĽrlichen BedĂĽrfnisse der Fernsehindustrie zu vereinfachen.
Was verstehen Sie unter der „richtigen“ Länge?
Die Länge, die ich für die Geschichte, die ich erzählen will, als richtig empfinde. Ich
entscheide mich nicht im Vorhinein für eine Struktur oder eine Erzählposition.
Struktur und Erzählperspektive ergeben sich beim Schnitt. Auch wenn es prätentiös
klingen mag, ist alles, was ich tun kann, zu versuchen meinen eigenen Gedanken
und meinem eigenen Urteil zu folgen.
Am welchem Punkt entscheiden Sie, dass der Schnitt fertig ist?
Der Film ist fertig, wenn ich denke, dass ich aus dem Material, das ich habe, das
Beste gemacht habe. Ich muss mir selbst begründen können, warum ich eine
bestimmte Einstellung gewählt habe und welche Funktion sie in dem dramatischen
Narrativ hat, das ich zu entwickeln versuche.
Schneiden Sie immer noch analog?
Nein, leider bin ich zum digitalen Schnitt gewechselt. Der erste Film, den ich digital
geschnitten habe, war 2009 LA DANSE – LE BALLET DE L’OPÉRA DE PARIS.
Gedreht habe ich den Film analog. Seither habe ich alle meine Filme digital
geschnitten.
Hat das Ihre Schnittweise verändert?
Nein, vieles, was ĂĽber die Unterschiede zwischen analogem und digitalem Schnitt
gesagt wird, halte ich für blanken Unsinn. Es ist nicht das Gerät, das die
Entscheidungen trifft! Ich brauche fĂĽr den digitalen Schnitt eines Films genau so lang
wie für den analogen. Das Hirn macht die Arbeit, nicht das Gerät.
Das digitale Avid-System folgt dem Vorbild des horizontalen Steenbeck-
Schneidetisches, den ich jahrelang benutzt habe. Das einzige, was schneller geht, ist
die Möglichkeit, eine bestimmte Einstellung wiederzufinden. Aber das ist nicht
unbedingt von Vorteil. Als die Filmrolle noch an der Wand hing, musste ich
aufstehen, sie holen und auf dem Steenbeck einlegen, um mir die Einstellung
anzusehen. Doch das war keine verlorene Zeit. Bei der Suche nach einer Einstellung
oder einer Sequenz sah ich auch noch einmal, was ich vorher und nachher gedreht
hatte, und das brachte mich oft auf Gedanken, die ich nĂĽtzlich fand.
In EX LIBRIS widmen Sie sich keiner Person und keiner Geschichte mehr als
einer anderen, dabei hätte doch der Leiter der Bücherei, ein wirklich starker
Charakter, dem Film als eine Art roter Faden dienen können. Rührt diese
Entscheidung daher, dass Sie nur so allen Facetten einer Institution oder eines
kollektiven Gebildes Rechnung tragen konnten?
Hätte ich einen Film über den Leiter der NYPL gemacht, wäre es kein Film über die
Bücherei geworden. Er wäre zum Gegenstand des Films geworden. Damit will ich
nicht sagen, dass man über ihn keinen interessanten Film hätte machen können.
Doch diesen Film wollte ich nicht machen. Meine Filme funktionieren wie ein Mosaik,
sie setzen sich aus tausenden von Entscheidungen zusammen, die einen Eindruck
des alltäglichen Betriebs an einem Ort vermitteln sollen. Der fertige Film ist
impressionistisch, nicht endgĂĽltig oder umfassend.
Sie agieren in Filmen sowohl als Regisseur als auch als zweiter Tonmann.
Bestimmt das, was Sie hören und das, was Sie sehen?
Nein, es kommt ganz darauf an. Es hängt von der jeweiligen Sequenz ab. Manchmal
bestimmen die Bilder die Worte, manchmal bestimmen die Worte die Bilder. In dem
Film AT BERKELEY gibt es viele Begegnungen und Sequenzen, in denen die Worte
die Bilder bestimmen, aber auch das Gegenteil kann der Fall sein, wie in LA DANSE
– LE BALLET DE L’OPÉRA DE PARIS.
Warum der Titel EX LIBRIS – THE NEW YORK PUBLIC LIBRARY?
Das ist zum Teil ein Insiderwitz, denn mein Schwiegervater versah alle BĂĽcher in
seiner Privatbibliothek mit einem Ex Libris und seinem Namen. Vor allem aber wollte
ich darauf hinweisen, dass der Film nicht alles wiedergibt, was an der New York
Public Library geschieht. Die Titel meiner Filme At Berkeley und In Jackson Heights
habe ich aus eben diesem Grund gewählt, um anzudeuten, dass der Film nicht
vorgibt, alles zu zeigen, was an diesen Institutionen vor sich geht. Anstatt des Titels
„From the Library“ habe ich mich in diesem Sinne für den lateinischen Ausdruck
entschieden.
Wie eine der in Ihrem Film auftretenden Personen betont, ist die New York
Public Library trotz ihres Namens nicht nur eine öffentliche Einrichtung,
sondern Teil einer öffentlich-privaten Partnerschaft, denn die Hälfte ihres
Budgets kommt aus privaten Fonds und Stiftungen. In Frankreich dienten
ÖPPs hauptsächlich dazu, Verluste zu vergesellschaften und Profite zu
privatisieren, und waren für das öffentliche Gut selten die beste Wahl. Wie
kommt es, dass diese Partnerschaft im Falle der New York Library zu
funktionieren scheint?
Das hat wahrscheinlich mit der unterschiedlichen Geschichte der beiden Länder zu
tun; die zentralistische französische Regierung stellt 1% des Staatshaushaltes für die
Kultur bereit. Die $250 Millionen der staatlichen Kunstförderung (die für alle
Kunststiftungen in den Vereinigten Staaten reichen muss) sind wahrscheinlich nur
ein geringer Teil dessen, was die Stadt Paris jährlich von der französischen
Regierung erhält. Wegen der unterschiedlichen Steuerordnung der beiden Länder
treten amerikanische Stiftungen an die Stelle der Regierung und subventionieren den
Kulturbetrieb sehr grosszĂĽgig. Ende des 19. Jahrhunderts grĂĽndete Andrew
Carnegie Bibliotheken in ganz Amerika. Auch wenn er ein harter Geschäftsmann
war, so vergass er doch nie, dass er ein schottischer Einwanderer war, und wollte
dem Land, das ihn reich gemacht hatte, einen Teil seines Vermögens zurückgeben.
Heute gehen Bill Gates und Warren Buffet ähnliche Wege. Private Stiftungen leisten
einen wichtigen Beitrag zur amerikanischen Kultur und Bildung.
Haben BĂĽchereien wie die NYPL in einer Zeit, in der die grosse digitale
Bibliothek von jedem Computer mit Internetzugang zugänglich ist, noch eine
Zukunft?
Auch wenn sie immer grössere Bereiche ihrer gewaltigen Bestände digitalisieren und
online stellen, glaube ich nicht, dass die BĂĽchereien in Zukunft an Bedeutung
verlieren werden. Die New York Public Library unterstĂĽtzt eine so grosse Vielfalt an
wichtigen Kultur- und Bildungs-Aktivitäten, dass sie weiterhin ein Ort sein wird, den
die Menschen aufsuchen wollen, um zu lernen, Gedanken auszutauschen, sich zu
informieren und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Diese Bedürfnisse werden die
Bedeutung der NYPL und aller Büchereien erhöhen, nicht verringern.
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