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Film-Archiv

Interview übers Kreuz
mit André Téchiné und Céline Sciamma
Weshalb wollten Sie zusammenarbeiten?
André Téchiné. Ich wusste, dass der Film von zwei Jugendlichen handelt und die Wahl Célines drängte sich von Anfang an auf. Mit «Naissance des pieuvres», «Tomboy» und «Bande de filles» ist sie die Einzige in Frankreich, die einen wirklich neuen Blick auf Adoleszenz wirft.
Céline Sciamma. Nach «Bande de filles» dachte ich nie mehr einen Film zu diesem Thema zu drehen. Aber ich rede immer noch gerne darüber. Der Vorschlag von André war die Gelegenheit, einen Dialog weiterzuführen, ohne mich einer Kontinuität zu verschreiben. Als Drehbuchautorin ist es eine echte Herausforderung, mich auf einen Cineasten wie ihn einzulassen, jemanden, der so ambitioniert ist in Bezug auf Geschichten. Ich habe seine Filme sehr früh entdeckt und sie haben mich in meiner Begegnung mit dem Autorenkino sehr geprägt.
Was war der Ausgangspunkt des Drehbuchs?
A.T. Wir sind von der Idee eines Dreiecks zwischen einer Mutter ausgegangen, aus der wir eine wichtige Figur machen wollten, und zwei Jugendlichen, die im Laufe der drei Trimester des Schuljahres ihr Verlangen entdecken und auskundschaften. Eine einzige Idee leitete uns: Die Körperlichkeit. Den Film so physisch wie möglich schreiben. Jede Szene sollte ein Moment der Aktion sein. Die Figuren mussten stets auf der Lauer liegen und reagieren ohne zu verstehen, was mit ihnen geschieht und wie sie reagieren sollten und es vor allem nicht in Worte fassen könnten. Es war undenkbar, dass Tom und Damien ihre Emotionen ausdrücken wie dies Erwachsene tun würden.
C.S. Der Film «Naissance des pieuvres» war bereits der Wunsch, nicht von Figuren zu erzählen, die wissen, wer sie sind und es aller Welt mitteilen, sondern den Moment einzufangen, in welchem das Verlangen vom Bauch ins Herz schlägt und das Bewusstsein dafür zum Vorschein kommt. André und ich haben uns auf dieser Wellenlänge getroffen. Wir wollten beide einen sehr physischen Film.
Tom und Damien sind beide Einzelgänger. Das ist weit entfernt vom Teenie-Film ...
A.T. Wir stellten uns nicht vor, dass sie einer Gruppe angehören; wir wollten, dass sie etwas abseits stehen; ziemlich schnell sieht man, dass jeder einem anderen Team angehört, wenn sie im Gymnasium Basketball spielen, aber man spürt, dass sie fast untergehen – sie sind ein wenig farblos und in einer Verfassung der Einsamkeit, die nicht unbedingt melancholisch ist. Einfach ein wenig am Rande.
Ihre Gewalt, die sie antreibt, ist zumindest zu Beginn die einzige Sprache, in welcher sie sich verständigen können. Wie erklärt sich diese Feindseligkeit?
A.T. Sie wissen nicht, woher das kommt. Vielleicht vom Unterschied ihrer Herkunftsmilieus. Tom muss eine Stunde durch den Schnee gehen, um den Schulbus zu erreichen. Damien, der in den Rockzipfeln seiner Mutter lebt, wird mit dem Auto vorgefahren. Die Distanz dessen, was sie täglich erleben, entfernt und trennt sie voneinander. Damien gibt damit an, Rimbaud zu rezitieren. Aber Tom kennt das Naturgefühl besser, welches das Gedicht evoziert. Sie leben die Erfahrung des Unvereinbaren. Das gibt der Geschichte seinen Aspekt eines Action Films. Als die Mutter die beiden Jungen auffordert, sich nach dem Treffen beim Schuldirektor die Hände zu geben, ist es klar, dass weder der eine noch der andere Lust dazu hat, Frieden zu schliessen. Sie wollen weitermachen, ohne zu wissen wohin es führt. Sie benehmen sich wie Forscher oder Abenteurer.
Die ersten Raufereien scheinen ausgelöst, als würden sie es gar nicht bemerken. Dann bekommt man nach und nach den Eindruck, dass sich eine Art ritterliches Ritual zwischen ihnen einstellt.
A.T. Ich wollte nicht, dass diese Szenen repetitiv wirken. Sie mussten jedes Mal auf eine andere Art und unerwartet ausgelöst werden. Aber sie verleiten unweigerlich zu einem Verhältnis der Revanche und das einzige Mal, wo es eine gegenseitige Absprache gibt, ist dasjenige des Duells in den Bergen. Da sind sie in der freien Natur und können ihre Gewalt abgeschirmt von der Welt bis zum Äussersten ausleben.
C.S. Die Gewalt entwickelt sich zwischen ihnen, um schliesslich eine eigentliche Erzählung darzustellen. Desto mehr sie wächst und sich entfaltet, umso mehr entwickelt und perfektioniert sich die Dramaturgie der Beziehung zwischen Tom und Damien. Die Gewalt ist nicht ein für alle Mal festgelegt, sie ist ein Dialog. Sie ermöglicht es ihnen langsam aber sicher zu begreifen, was sie antreibt und was sie verändert.
Als Damien am Boden liegt, verlangt er nach einer Fortführung des Kampfes, während Tom diese ablehnt und eine Pause vorschlägt.
A.T. Das ist eine erste Etappe. Sie rauchen in der Grotte einen Joint ohne ein Wort zu wechseln. Das ist ein Moment des Erwartens und der Sinnlichkeit. Dann kommt der Sprung von Tom ins eiskalte Wasser des Bergsees. Für Damien ist das wahrscheinlich der Augenblick, in dem sich das Bild bei ihm festlegt, der erotische Schock, sein Flash für Tom.
Toms Verlangen kommt viel später.
A.T. Er ist vielmehr unentschieden. Er muss gegen seinen Schreck vor dem Kontakt mit Damien kämpfen. Sobald er die Anziehung spürt, welche er auf Damien ausübt, will er die Distanz unbedingt aufrecht erhalten und entwickelt einen sehr grossen und brutalen Widerstand gegen dieses Verlangen. Das geht bis zu den harten Schlägen. Er verspürt einen dezidierten Schwulenhass in sich, dem er nicht Herr wird. Er ist in einen zweifelhaften Kampf verwickelt. Die Vorurteile sind keine Abstraktionen, sie haften buchstäblich an seiner Haut.
Tom ist ein wenig ein Wolfsjunge ...
A.T. Abgesehen von seinen Eltern ist sein Bezug zur menschlichen Welt äusserst entfernt. Sein Territorium ist der Berg. Er hat eine instinktive und gewaltvolle Beziehung dazu. Er kennt ihn in- und auswendig, jede Grotte. Er versucht im Lauf des Films sein Wissen Damien weiterzugeben, dann an die Mutter von Damien. Der Berg hat eine vorteilhafte Wirkung. Er überträgt eine Mythologie «Von Monstern und Göttern», die mir mit der Kindheit verbunden scheint. Es war mir jedoch wichtig, dass meine Figuren der Kindheit noch nicht entschwunden sind und Abenteuer erleben wie die Helden eines aufklärerischen Romans. Ich hatte die Referenz von Heathcliff im Kopf, der ebenfalls Mestize und adoptiert ist, in «Wuthering Heights» von Emily Brontë, welches ein Teenager-Roman par excellence ist. Tom ist vom Berg eingenommen wie Heathcliff vom Heideland.
C.S. Der Berg ist nicht nur ein Dekor. Er ist die noble Inkarnation der Charakterisierung und der Beziehungen zwischen den beiden Figuren. Ich insistiere auf dem Adjektiv nobel weil er etwas Spektakuläres zurückspiegelt. Es gibt etwas sehr beeindruckendes in dieser Landschaft, von der man meinen kann, dass sie die Seele der Figuren abbildet. Wir sind im Kino, nicht?!
A.T. Ich habe die Wege, die Tom im Schnee zurücklegt genauso gefilmt wie Kampfszenen. Das sind Action-Szenen, in welchen er sich Schritt um Schritt mit der Natur anlegen muss.
Trotz ihrer Unterschiede haben Tom und Damien auch Gemeinsamkeiten. Sie leben beide in einer warmherzigen Familie und haben eine sehr starke Beziehung zu ihren Müttern.
C.S. Wir hatten die Idee eines Duos Mutter-Sohn bevor wir die Geschichte des Films zu konstruieren begannen; ein sehr zeitgenössisches Duo, das nicht die Beeinflussung eines Kindes durch einen Erwachsenen erzählt oder eine Meinungsverschiedenheit in Bezug auf das Verlangen, das seiner Entfaltung vorausgeht.
A.T. Vielleicht ist es eine Reaktion auf Mütter, die mit ihrer beherrschenden Beziehung häufig im Konflikt sind. Unsere Figur sollte ein einzigartiges Modell sein, ein Prototyp mütterlicher Liebe, die ruhig, komplett und ohne Einfluss sein sollte.
Damien unterhält mit seiner Mutter ein gleichzeitig sehr reifes wie auch verspieltes Verhältnis.
A.T. Sie haben ein grosses Einverständnis. Sie entbehrt nicht einer gewissen Fantasie, bietet ein Kräftemessen an und schätzt die Kochkünste ihres Sohns. Wir wollten sie glücklich zeigen miteinander. Die Momente des Glücks sind ein schwieriges Unterfangen im Kino, ohne der Rührseligkeit zu verfallen.
Ohne es zu wollen verleitet die Mutter die beiden Jungen zur späteren Beziehung.
A.T. Es ist nicht Damien, der die Schönheit von Tom bemerkt, es ist sie, die ihn darauf anspricht. Und es ist ebenfalls sie, die Tom auf die Gefühle anspricht, die Damien für ihn verspürt.
C.S. Sie hat nicht den Willen, dieses Duo zu kreieren und verursacht die Bindung nur weil sie eine Beziehung zu beiden von ihnen hat. Sie betrachtet den Einen und den Anderen. Sie befindet sich in der Mitte. Sie befindet sich in der Position des Kontrollierens der Situation. Auch sie erlebt ein Abenteuer.
A.T. Sie ist von den Ereignissen sogar völlig überrollt, als sie plötzlich merkt, dass sich die beiden Jungen weiterhin verprügeln. Sie entscheidet lediglich, Tom zurück zu seinen Eltern zu schicken. Sie wird überhaupt nicht gewahr, was sich in ihrem Haus abspielt.
Sie ist sehr gastfreundlich – wie übrigens auch die Familie von Tom. Sie kümmert sich um sich selbst und um ihr Umfeld ...
A.T. Sich kümmern, das im Kern des Themas. Familie heisst sich um jemanden kümmern und dieses Kümmern ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines Lebens. Im dritten und letzten Trimester kümmert sich Tom um Damien und seine trauernde Mutter. Er ist nicht mehr ein Objekt der Neugier, von Verlangen oder Mitleid, sondern er wird zum Subjekt. Das lässt ihn wachsen.
Ab dem Moment dieser Trauer schlägt für jede der Figuren alles um.
A.T. Es ist der Krieg, der ausserhalb des Bildes blieb oder durch Skype neutralisiert wurde, der plötzlich auftaucht. Die Weltgeschichte platzt ins Privatleben hinein. Damit werden die Karten neu gemischt. In dem Moment, wo das Handeln der Jugendlichen mit dem richtigen Krieg der Erwachsene konfrontiert wird, nimmt der Film seine eigentliche Dimension an.
In diesem Moment ändern sich die beiden Jungen wirklich.
A.T. So traumatisierend der Tod seines Vaters ist und vielleicht um ihn zu beschwören, gibt er Damien trotzdem die Kraft, Tom seine Liebe anders zu erklären als durch Gesten und Blicke.
C.S. Gerade da ist die Konstruktion des Films eigenartig: Man ist wirklich im Zeitgefühl des Coming-of-Age-Films – weder in der sommerlichen Chronik einer Unruhe, noch, einmal mehr, im Antizipieren desjenigen, was geschehen wird. Die Reaktionen und die Entwicklung der Figuren sind ebenso unvorhersehbar wie die Zwischenfälle – der Krieg, die späte Schwangerschaft der Mutter von Tom, der Tod Nathans ... Alles bleibt immer mysteriös und ungelöst. Während des Schreibens waren André und ich vom Gedanken beherrscht, sich lebendige Figuren vorzustellen, die überrascht würden und nicht Figuren, die überraschen.
Die Tom in den vernebelten Bergen von Damiens Mutter abgelegte Beichte über das Leben und den Tod ist eine der wenigen Szenen im Film, deren Dialog geschrieben war.
A.T. Ich habe sie beim Schnitt fast weggelassen. Immer diese Besessenheit zu viel zu verbalisieren. Ich habe sie schliesslich stehen gelassen, denn da ist der Kern der Szene: Ist es besser zu sprechen oder zu schweigen? Es ist die Ruhe und das Zuhören von Tom, welche sie einlädt sich anzuvertrauen ...
Haben Sie sofort an Sandrine Kiberlain gedacht für diese Figur?
A.T. Sie ist lebendig, leicht und gerät im Film auf die emotionale Achterbahn. Ich habe sie für ihr breites Spielspektrum ausgewählt. Sie bewegt sich mit einer grossen Gelenkigkeit. Am Anfang ist sie ein wenig Mary Poppins mit ihrem grünen Dufflecoat, ihrer violetten Strickmütze und ihrem Arztköfferchen, um in der Szene auf dem Friedhof eine übergeschnappte Schlafwandlerin zu werden.
Die Friedhofsszene kommt sehr unerwartet.
A.T. Und sehr entfernt, von dem, was man von ihr kennt. Da war Sandrine wirklich auf unbekanntem Boden. Die Schreie waren für mich sehr wichtig, mehr Japanisch als Französisch, und das war übrigens die einzige Szene, welche wir von weiter Hand vorbereiteten. Beim Drehen war es ein wenig surreal ... Sie kann ebenso gut sich engagieren wie ausbrechen ...
Sagen Sie etwas zur Wahl von Kacey Mottet-Klein und von Corentin Fila.
A.T. Es war für mich wichtig, dass Tom, der adoptierte Sohn, ein Mestize ist. Weil ich wünschte, dass er den Akzent des Südwestens von Frankreich spricht, habe ich begonnen in Toulouse zu suchen. Aber schliesslich fand ich Corentin Fila in Paris. Er hatte eine unmittelbare Schönheit. Er ist ein sehr körperlicher Schauspieler, robust und mysteriös. Ein wenig ausserirdisch. In der Szene im Mondlicht am Berg wird er zur fantastischen Kreatur. Er ist auch zu kindlicher Naivität fähig, um Toms Unerfahrenheit in menschlichen Beziehungen zu verkörpern.
Und Kacey Mottet-Klein?
A.T. Kacey ist das Gegenteil von Corentin, so wie Damien das Gegenteil von Tom ist. Der Blondschopf, das Muttersöhnchen, das verwöhnte Kind. Kacey ist ein vibrierender Schauspieler. Er hat sich ab den ersten Proben aufgedrängt. Es ging darum, ein Paar mit Kontrasten zu bilden, da seine Dynamik auslöst. Ihre Reaktionsfähigkeit war mir sehr wichtig. Die Kamera nahm die zwischen ihnen erzeugte Elektrizität auf.
Wie haben sie sich auf ihre Rollen vorbereitet?
A.T. Schon bei den Proben mussten sie gehen, sich bewegen, sich wandeln, und dann habe ich sie rasch einem Kaskadeur anvertraut, der sie im Ringkampf trainiert hat. Corentin Fila hat parallel dazu ein dreiwöchiges Praktikum auf einem Bauernhof absolviert, um die täglichen Handgriffe in diesem Milieu kennenzulernen: Heuballen stemmen, Tiere betreuen ... Sie haben sich mit ihren Figuren komplett identifiziert.
Wie arbeitet man mit Schauspielern, die noch wenig Erfahrung haben? Gab es Drehbuchlesungen oder Proben?
A.T. Weder das eine noch das andere. Ich ziehe es vor, den Schauspielern einen grossen Freiraum zu lassen und sie in eine Art Unsicherheit und Frische zu versetzen – umso mehr als es in diesem Film nur wenig Untertitel gibt. Ich versuche immer das Unerwartete einzufangen. Später ziehe ich engere Leitlinien und es wird immer präziser. Aber beim Schnitt wähle ich dann häufig die ersten Aufnahmen aus, die sich durch das Herantasten auszeichnen.
Die Parts von Tom und Damien können für junge Schauspieler extrem verstörend sein. Wie haben sie darauf reagiert?
A.T. Kacey, der noch nicht einmal 17 Jahre alt war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten, hat den ersten Teil des Films sehr schlecht erlebt. Die nicht akzeptierte Homosexualität seiner Figur hat ihn stark beschäftigt. Ich musste ihn ständig zu den Situationen und Gefühlen zurückholen, die er zu spielen hatte. Ich wiederholte: „Homosexualität kann nicht gespielt werden. Konzentrier Dich auf den Augenblick der Aufnahme; beschäftige dich nicht mit der Homosexualität. Niemand ist fähig einen Homosexuellen oder einen Heterosexuellen zu spielen; das sind Gebilde, die keine Konsistenz haben”. An einem Tag ging das perfekt, am nächsten waren seine Zweifel zurück, genährt von den Blicken der Anderen, der Komparsen im Gymnasium, die ihm sagten: „Es ist also eine Schwulengeschichte?” Und man musste wieder von vorne anfangen ...
Ist es eine zusätzliche Schwierigkeit, Leute ohne Erfahrung zu führen?
A.T. Es gefällt mir im Gegenteil sehr gut. Ich finde es viel einfacher: Sie haben keine Vorurteile und klammern sich nicht an einem Knowhow fest Es ist viel schwieriger mit Schauspielern zu arbeiten, die ihre Technik anführen. Das löst nicht unbedingt Funken aus. Die grossen Schauspieler sind übrigens sehr wohl fähig ihr Metier im Moment der Aufnahmen zu vergessen und die Grazie des Anfängers zu bewahren.
Läuft man nach einer gewissen Anzahl Drehtagen nicht in die Gefahr, diese Spontaneität zu verlieren?
A.T. Ich weiss nicht, ob es Spontaneität ist. Meine Takes gleichen sich sowieso nicht. Bei jeder Aufnahme können die Anordnung, der Ausschnitt und die Dialoge ändern. Ich versuche nie eine Art mechanische Perfektion zu erreichen. Von einem Take zum anderen versuche ich neue Farbtöne zu finden. Beim Schnitt habe ich manchmal die Wahl zwischen Aufnahmen, die sehr unterschiedliche Stimmungslagen ausdrücken. Es ist nicht mehr das Reüssieren oder der Misserfolg der Performance, die in Frage gestellt sind.
Hatten Sie Schwierigkeiten die Liebesszene zu drehen?
A.T. Das war eine sehr schwierige Szene: Es war für Corentin und Kacey nicht einfach, in dieser langen Sequenz physisch so weit zu gehen. Sie mussten ihre eigenen Hemmungen überwinden und gleichzeitig die Unerfahrenheit, die Ungeschicklichkeit wie auch ein gewisses Mass von Ungeduld und Appetit darstellen. Ich hatte mit ihnen im ersten Teil der Dreharbeiten so viel darüber gesprochen, dass sie schliesslich an diesem Tag sehr verfügbar waren. Sie hatten das Prinzip der Szene akzeptiert und sie sind reingesprungen. Das Aktiv-Passiv-Schema ist neutralisiert. In Bezug auf erotische Stellungen machen beide ungefähr dasselbe, aber sie tun es auf sehr persönliche Art und Weise, mit einer Gestik, die nicht gegensätzlicher sein könnte. Es brauchte ein grosses Vertrauen und ein grosses Einverständnis zwischen ihnen, um dahin zu gelangen. Im Endeffekt fühlte ich mich am unbehaglichsten.
C.S. Seit langem habe ich nicht mehr eine so schöne Liebesszene gesehen. So etwas kann man nicht vorausplanen. Man notiert einfach: « Sie machen zusammen Liebe ». Und plötzlich sieht man sie auf der Leinwand.
André, wie immer in Ihren Filmen, spielt die Natur eine sehr grosse Rolle ...
A.T. Das kommt von den Erinnerungen an die Pyrenäen, vermischt mit Emily Brontë, welche aus der Heidelandschaft ihre Hauptfigur macht. Landschaften provozieren Schocks: Sie schliessen eine Kraft in sich, mit welcher es möglich ist in Kontakt zu treten. Das ist etwas, was im 19. Jahrhundert bei den Romantikern sehr stark existierte. Die Amerikaner sind fähig, dies in ihren Filmen zu tun. Ich denke zum Beispiel an «Gerry» von Gus Van Sant.
Sprechen wir über die Regie ...
A.T. Ich weiss nicht genau, was dieses Wort bedeutet. Die Regie ist etwas sehr instinktives bei mir. Die Berge, die Körper der Schauspieler, die Wege Toms im Schnee, sich vorzustellen, wie das sich zusammen bewegt, das sind bereits Elemente der Regie vor dem Dreh, aber ich lasse mich nicht in eine im Voraus Festlegung der Bildfolge einschliessen. Was ich sagen kann, ist, dass ich nie eine Szene in Funktion der vorhergehenden oder der darauffolgende filme. Ich widmete meine ganze Aufmerksamkeit einer möglichst grossen Präsenz in der Sequenz, die ich gerade abdrehte, wie wenn es sich um einen Kurzfilm handeln würde und als ob es das erste und letzte Mal wäre.
Wie schreibt man vierhändig?
C.S. André und ich haben am Tisch zusammen gearbeitet und den Plan der Sequenzen erstellt. Ich habe anschliessend eine erste dialogisierte Abfolge geliefert – eine Art Interpretation dessen, was wir geschrieben hatten. Er hat den Text selbst weiterentwickelt und wir ihn dann zusammen überarbeitet.
A.T. Wenn man mit einem Drehbuchautor schreibt, kommt man häufig zu einem ersten, überfüllten Entwurf, den man dann vereinheitlichen muss. Céline ist es im Gegenteil immer ein Anliegen, zur Prägnanz zu kommen. Die erste dialogisierte Abfolge, die sie mir präsentierte, war dynamisch und strukturiert, fast ausgezehrt. Diese Sorge, das Skelett offenzulegen, gibt vermutlich dem Film seine dramaturgische Effizienz. Ich habe das Gefühl, dass man auf diesem Dreieck konzentriert bleibt und es Schritt auf Schritt verfolgt, ohne Etappen zu überspringen und ohne zu antizipieren.
C.S. Indem der Film in zwei Teilen gedreht wurde – ein Teil im Winter, der andere im Sommer – haben wir dazwischen noch einmal über das Drehbuch gesprochen. Das war eine befruchtende Erfahrung.
A.T. Und die Möglichkeit eines zweiten Atemzugs. Sehr wenige Regisseure können sich sagen, dass sie beim nächsten Dreh diese oder jene Szene verbessern werden oder die Perspektive auszutauschen oder sie ganz durch eine andere Szene ersetzen.
Und Sie haben das getan?
A.T. Ja. Ich habe die Szene im Haus neu gedreht, in welcher Damien Tom die Medikamente bringt. Sie war beim ersten Dreh draussen viel mehr entwickelt. Ich habe gemerkt, dass sie zu dialoglastig war und deshalb an Kraft verlor. Ich habe mich einmal mehr entschieden, nur die Blicke herauszuarbeiten.
Welchen Einfluss hatte dieser Dreh in zwei Etappen auf die Schauspieler?
A.T. Er war gewaltig und erlaubte die Auswirkung der Zeit auf ihr Verhalten zu messen. In diesem Alter ändern sich Schauspieler spürbar von einer Saison zur andern. Ich übertreibe bestimmt, aber so möchte ich es jedenfalls sehen.
Ist es während des Schreibens zu Meinungsverschiedenheiten gekommen?
C.S. Keine Konflikte, aber Diskussionen über Fragen der Erzählweise – Wie erreicht man dieses Ziel? Wohin geht man? Da wir das Anliegen hatten, möglichst viel Action in den Szenen zu haben, stellten wir uns wenig die Frage der Psychologie der Figuren. Unsere Einwände bezogen sich auf ganz konkrete Elemente. Aber das will auch heissen, dass wir arbeiteten.
Céline, ist es nicht ein wenig frustrierend für eine Regisseurin, im Drehbuchstadium die Arbeit zu beenden?
C.S. Überhaupt nicht. Auch wenn ich bei meinen Filmen als Drehbuchautorin und Regisseur auftrete, unterscheide ich sehr wohl zwischen beiden Metiers. Es gefällt mir sehr für andere zu schreiben – natürlich fliessen die Fragen rund um die Regiearbeit in meine Schreibtätigkeit ein. Und anschliessend nehme ich gerne am Schnitt teil.
Waren Sie bei den Schnittarbeiten dieses Films dabei?
C.S. Nicht regelmässig, aber ich bin manchmal vorbeigegangen.
A.T. Bei einer ihrer Besuche sagte mir Céline, die wie ich mit Komplimenten eher geizt, scherzhaft: „Aber es ist ein Epos!”. Einfach so war es, was ich erwartete.
C.S. Ich entdeckte die romanhafte Dichte, die selbstverständlich im Keim schon beim Schreiben vorhanden war, aber welche nur die Inszenierung sichtbar machen konnte; das Anschwellen des Krieges im Hors-Champ im zweiten Teil, die individuelle Zerrissenheit jeder Figur und diese Form von Exaltation – André würde das Wort Elevation vorziehen – am Schluss in den Bergen.
André, es liegt auf der Hand den Film mit «Les Roseaux sauvages» in Verbindung zu bringen ...
A.T. Obwohl die Referenz unvermeidlich scheint, gefällt mit dieser Vergleich nicht. Auch wenn die Figuren dasselbe Alter haben und ihre Matura vorbereiten, geht es in «Les Roseaux sauvages» nicht darum, eine „Familie zu bilden” oder in „Gesellschaft zu sein”. Die einzige Symmetrie, welche ich zwischen den beiden Filmen sehe, ist die Präsenz des Krieges im Hors-Champ, der in einem verlorenen Flecken Frankreichs ankommt: Der Krieg in Algerien in «Les Roseaux sauvages» und die militärischen Eingriffe Frankreichs wie sie in «Quand on a 17 ans» evoziert werden. Für mich ist dieser Film total in der Gegenwart.
C.S. Wenn ich sie miteinander in Verbindung bringen müsste, wäre es wegen ihrem Generationenaspekt: 20 Jahre später interessiert sich André wiederum für Teenager. Aber 20 Jahre sind vergangen und die Gesellschaft hat sich verändert.
André, trotz Krieg und Tod von Nathan situiert sich «Quand on a 17 ans» entschieden auf der Seite des Lebens. Das war nicht in allen Ihren Filmen der Fall.
C.S. Schon beim Schreiben und während all dieser Etappen war das eine der fixen Ideen von André. Er wehrte sich gegen alles, was für das Projekt belastend zu sein drohte.
A.T. Die Erhebung zum Berg am Schluss trägt bestimmt zu dieser Wahrnehmung bei, aber es stimmt, das Leben gewinnt in meinen Filmen je länger je mehr an Stärke. Das ist eine klassische Entwicklung: Je älter man wird, umso weniger ist man der Schwärze und der Melancholie angetan. Man verlängert seine Jugend mit den Filmen und, im Gegenteil, man ruft das Leben.
Gespräch (auf Französisch) mit Marie-Elisabeth Rouchy